"Die ungarische Grenzabfertigung verläuft zügig und ohne Probleme, doch dann fahre ich im Niemandsland versehentlich auf der falschen Spur und verheddere mich auf der Grenzbrücke. Ukrainische Soldaten beordern mich zurück. Vorsichtig dirigiere ich meinen Opel über die Theiß zurück aufs ungarische Ufer. Auf der richtigen Spur reihe ich mich in eine lange Schlange Einreisewilliger ein – in Gegenrichtung die Schlange Wartender vor dem ungarischen Grenzposten. Man steigt aus, vertritt sich die Beine, hält Schwätzchen mit dem Auto-Nachbarn.
Dann bin ich endlich an der Reihe. Eine Handvoll Beamte in undefinierbaren Kampfuniformen turnen auf dem Sammelplatz herum. Ich zeige meinen Paß vor. Zum Glück hat die Ukraine gerade die Visumpflicht abgeschafft, so daß wenigstens dieses Übel nicht mehr an Sowjetzeiten erinnert; sonst ist aber noch alles wie früher, vor allem der Umgangston und die grimmigen Gesichter. Ich erhalte Kontrollzettel und mir nicht ganz verständliche Formulare zum Ausfüllen. Wenn ich fertig bin, soll ich die Formulare in der Kabine neben mir durch den Schlitz reichen. Aha, das eine ist die Immigrationskarte, sie ist doppelt auszufüllen; das andere Zettelchen ist die Zollerklärung. Um Gottes willen, alles auf ukrainisch!
Auch eine Adresse in der Ukraine ist anzugeben. Ich schreibe etwas von Vorochta und einen Straßennamen dazu. Irgendwann bin ich damit fertig. Hinter dem Schalterschlitz ein junger Soldat der Grenztruppen. Er beginnt den Paß zu durchblättern. Durchzublättern, zu lesen, vor allem aber – das Foto zu suchen. Die Fotografie ist da! Der Soldat schaut auf die Fotografie, dann auf mich, auf die Fotografie und gleich wieder auf mich, auf das Foto und auf mich. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. 'Nehmen Sie die Brille ab!' ordnet er an. Wieder prüft er die Fotografie und mich, erst die Fotografie, dann mich. Ich kann seinem Gesicht ansehen, daß es jetzt, da ich keine Brille trage, noch weniger stimmt. Ich sehe in seinen hellen Augen die Konzentration, das Pflichtbewußtsein, und spüre geradezu, wie sein Gehirn fieberhaft arbeitet. Ich glaube zu wissen, was sein Denken in diesem Moment bewegt – er sucht den Feind. Der Feind trägt diese Bezeichnung nicht auf der Stirn geschrieben, im Gegenteil, er ist getarnt. Die Aufgabe besteht darin, ihn zu demaskieren. In dieser Kunst werden mein Soldat und Tausende seiner Kollegen geschult. 'Hier habt ihr hundert Bilder', sagt der Leutnant, 'unter ihnen ist ein Spion. Wer den herausfindet, bekommt eine Woche Urlaub.'
Ein Spion kann ganz gewöhnlich aussehen, er kann sogar freundlich lächeln! Es gibt jetzt überhaupt keine Spione mehr. Wie bitte? Es gibt keine mehr? Kann man sich denn eine Welt ohne Spione vorstellen? Das Gehirn des Soldaten arbeitet, sucht, forscht. Eines ist sicher – ein Spion will hier um jeden Preis eindringen, sich einschleichen, sich durchschmuggeln, durchbrechen. Manchmal heißt es, der Kalte Krieg sei vorbei. Doch es gibt ihn noch, er existiert in diesem Hin- und Herwandern der Augen zwischen Fotografie und Gesicht, in diesem bohrenden und durchdringenden Blick, in diesem forschenden und argwöhnischen Mustern, in diesem Nachdenken, Zögern, in dieser Unsicherheit, was mit mir jetzt geschehen soll.
Dann reißt der Schalterbeamte eine Hälfte der Immigrationskarte ab und wirft sie in einen Pappkarton auf seinem Tischchen. Da weiß ich, ich habe die Prüfung bestanden. Er stempelt den Kontrollzettel ab. Wohin ich will? Ich sage 'Krim', das klingt unverdächtig. 'Na morje?' Da, na morje, ans Meer. Touristen haben immer nur ans Meer zu wollen. Warum ihm umständlich etwas von Bergen erzählen? Das würde er sowieso nicht verstehen.
Jetzt zurück zu den drei Kontrollbeamten. Sie blättern in meinem Paß. Jetzt muß ich das mit Vorochta und der Hora Hoverla durchziehen, scheint mir. 'Atkuda wy?' Woher? 'Iz Girmanii', aus Deutschland, wie im Sprachkurs gelernt. 'A kudá?' Und wohin? 'Gora Goverla, Alpinism'. 'Sam'? Allein? 'Da, sam', ja, allein. 'Kein Kamerad?' Nein. Ungläibiges Staunen. 'A patschemú?' Warum? Gute Frage. Ich zucke mit den Schltern. Ich habe halt keinen Kameraden. 'Gefährlich!' sagt er. Das kenne ich schon Für Grenzbeamte ist immer alles Ungewöhnliche gleich auch gefährlich.
'Hinten öffnen!' schnauzt der Nächste. Ich komme mir vor wie bei der Vorfahrt beim TÜV. Doch die Initiationsriten nehmen ihren normalen Gang. Die Bergstiefel fallen dem Kontrolleur aus der rückwärtigen Tür des Autos entgegen. Gut so! Er reißt an einem Pappkarton, reißt ihn halb kaputt. Dort sind Konservendosen drin, Apfelmus. Na ja, gut. Ich darf drei Schritte weiterfahren, nachdem der Chef das Untersuchungsergebis gutgeheißen hat. Dort gebe ich den Kontrollzettel ab. Ich bin frei!"
Angler an der noch winterlichen Theiß. Gegenüber das Dorf Kostilivka
"Mein Nachtlager beziehe ich auf einem Plätzchen am Ufer der Theiß zwischen Rachiv und Jasinja bei Kwasi. Draußen wird es schnell dunkel und es ist grausam kalt. Eine Kältefront zieht mit Schneefall über mich hinweg, während ich in meinem Schlafsack in voller Montur eingepackt liege, mit dicken, langen Strümpfen und langen Unterhosen an. Morgens zeigt die Temperaturanzeige im Auto minus 1 Grad Celsius – und es wird noch kälter: Um 9 Uhr messe ich minus 3,5 Grad. Aber die Sonne kommt heraus."
"Das Zarosljak-Haus – verkürzt Sportbaza Zarosljak genannt, Sportbasis, bombastisch als Golowna sportiwno-nawtschal'no-trenuwal'na baza olimpijskoj piggotowki – 'Haupt-Sportausbildungs- und Olympisches Trainingslager' bezeichnet, 1270 Meter hoch – schreckt mich mit wüster Sowjet-Architektur aus Beton, Terrazzo, Eisengeländern und Regenrohren ab, hingeklotzt an den Hang, mitten in einen Fichtenwald hinein, mit einem großen Parkplatz davor; dort stelle ich mich ab und igle mich ein, um zu überlegen, was ich genau unternehmen will. Die Hora Hoverla natürlich, aber wie? Mit Abstieg zur anderen Seite nach Lugi? Und dann meinen Rückweg per Anhalter suchen? Habe ich dazu die nötige Begeisterung?
Erst schnüffle ich im Inneren der Zarosljak herum. Niemand scheint hier die Aufsicht zu führen; jeder kann tun, was er will. Von der lieblos-öden Eingangshalle wandere ich die langen Gänge entlang, schaue mir die Matratzenlager und Waschräume an – wie in einem Armeequartier. Nein, dann doch lieber in meinem Auto."
Aufziehende Wolken
Der Gipfel
Winterliche Gipfelinsignien
Hier geht es zum Hoverlyans'ki-Wasserfall.
Hora Hoverla, früher ein tschechoslowakischer Grenzberg: https://www.youtube.com/watch?v=vF0uAXJHOkg
"Oder soll ich, um direkter zu meinem Auto zurückzukehren, oben in Gipfelnähe des Turkul am 'seltsamen' Njesamovite-See die 'obere Etage' des Wegesystems nehmen? Nein, dazu bin ich schon zu weit abgestiegen und möchte, faul wie ich bin, nicht noch einmal den ganzen Hang zurück. Ich halte mich lieber an die eine, einzige Spur im Schnee, deren Schuhsohlenabdrücke zudem noch abwärts weisen. Was für ein Glück, daß am See überhaupt eine Spur zu finden war, die ins Tal führte. Was für ein Glück, daß sie vom Schneefall gestern nicht völlig zugeweht war! Was für ein Glück, daß an den Tagen vorher relativ warmes Wetter herrschte, so daß der Wanderer, der die Spur anlegte, ziemlich weit im weichen Schnee einsank! Was für ein Glück, daß der Frost gestern nacht die tiefen Trittlöcher konserviert hat!"
Huzulen-Zymbel: http://www.youtube.com/watch?v=G1AVPoaENyU&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=PXLvED85axY&feature=related
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