"Der Umgang mit straff geführten Diktaturen hat mich gelehrt, daß es besser ist mich unterzuordnen, wenn ich etwas erreichen will. Je lockerer, willkürlicher, die Machtstrukturen jedoch sind, desto mehr keimt in mir der Wille sie zu unterlaufen. Man wird mich nicht ein einziges Mal auf der Schwarzen Liste einer Botschaft finden, kein einziges Mal werde ich ein Visum für diese merkwürdigen Gebilde beantragen. Meinen Grenzübertritt werde ich individuell verhandeln müssen, glaubhaft machen müssen, daß ich harmlos bin.
Dann werde ich an die Grenze kommen, mich den hingeschusterten, aufgeplusterten Grenzposten nähern, wenn die Fahnen und Hoheitszeichen im Wind flattern, Flaggen von Ländern, die kein vernünftiger Mensch je betreten wird, die beim nächsten Windhauch der Geschichte zusammenklappen werden, umgeknickt wie Strohhalme. Aber die Vertreter dieser selbsternannten Staaten sind eindrucksvolle Machtpersonen. 'Wenn ihr mich nur hineinlaßt und mich nicht ins Gefängnis werft', flüstere ich verstohlen, 'werde ich Euch die Hände küssen.'
Die Dankbarkeit diesen Schergen gegenüber, wenn sie denn gnädig sind, mich umarmen und sich zu Freunden Deutschlands erklären, wenn sie um eine Münze aus meiner Heimat betteln und ich dann sogar eine aus den Tiefen meiner Tasche zu Tage fördere, wenn wir zusammen 'Am Brunnen vor dem Tore' gesungen haben und ich einen Schluck aus ihrer Wodkaflasche genommen habe, dann ist die Welt für beide Seiten in Ordnung. Und ich um ein Erlebnis reicher. Dafür bin ich diesen bestechlichen Gesellen dankbar.
Oder ich werde mich einschleichen, das System untertunneln. Werde mich durch einen Wald im Niemandsland vorwärtstasten oder einen unbewachten Paß überschreiten. Wenn ich keinen dieser Ausflüge je mit dem Gefängnis bezahlt habe, so ist das nur dem Zufall zu verdanken, der denen günstig ist, die das Leben lieben ohne die Fesseln, die die stupide Hand irgendwelcher Bürokraten und Schreibtischtäter schmiedet.
Es gibt kein Glück, das dem zu vergleichen wäre, das ich um den Preis von Gefahren und qualvollen Unannehmlichkeiten dem Leben entreiße. Denn alles, was die Menschen einem in kleinlicher Weise verwehren, ist beneidenswerte Freude. Und alle Freuden sind erreichbar, wenn ich sie suche, wenn ich mit der bloßen Hand in das Feuer greife, dem Risiko des Gefaßtwerdens nicht aus dem Weg gehe. Wenn ich die Grenzen einfach überschreite."
Das ist die Richtung: nach Plot' – in den äußersten Norden der stolzen Republik!
"Am Brückenkopf ein Kontrollposten. Die Registrierung im Computer geht diesmal relativ schnell – Dokumenty zeigen, aber keine Zoll- oder Devisenkontrolle. Über die Brücke also! Drüben aber, am transnistrischen Ufer, treffe ich auf eine Schlange von etwa sechs Autos. Hier geht’s langsamer. 'Wnimanije!' mahnt das erste Schild an einem Posten hinter einem schußsicheren Blechverschlag und einer Schranke. Achtung! Der Posten dient nur als Filter zum Öffnen und Schließen der Schranke. Dann das Übliche, das ich schon gewohnt bin: Schon wieder Dokumenty vorführen, Auto rechts ran fahren, denn ich bin ein komplizierter Fall, verdächtig als Deutscher. Kurzer Blick hinten in meine Ablage. Wohin? Plot'. Warum? Die Antwort interessiert den Kontroll-Gorilla überhaupt nicht mehr, obwohl ich schon vorauseilend angefangen habe, ihm mein Hobby zu erklären.
Über drei weitere Stationen werde ich weitergereicht. Alles wird säuberlich in den Computer eingetippt. Vorname meines Vaters? Ach du liebe Zeit, wozu das denn? 'Das machen wir in Rußland so'. Aha, ich begreife, man will mir einen für den Computer akzeptablen russischen Namen verpassen, und der besteht aus Vor, Mittel- und Nachname. Also: 'Heinrich'. Und schon bin ich zu Wol'fgang Gejnrichowitsch Schaub mutiert. Der russische Beamte grinst mich an – wir haben beide unsere schiere Freude an dem herrlichen Schwachsinn. Fünf Dollar soll ich zahlen wegen Straßenbenützung, und noch einmal acht moldawische Lei wegen dem Aufwand, mich zu registrieren. Dollars habe ich nicht. Ja, er nimmt auch Euro. Ich gebe ihm fünf Euro. Er rechnet aus: Eigentlich hätte ich nur 3,90 Euro zu zahlen. Ich erhalte kein Rückgeld, egal in welcher Währung. Auf Nachfrage: Nein, er hat kein Bargeld. Wieder das breite Grinsen. Ich verstehe: Er will auch ein bißchen verdienen. Alles verläuft ziemlich effizient und modern. Wir alle wollen verdienen und grinsen uns an. Njet Prabläm."
Ländliche Ruhe
"Ab der Weggabelung werden die letzten Straßenkilometer sehr löchrig. Laut Karte sollte bei der Einfahrt nach Plot' ein Brückchen über die Okna gehen, so heißt der Bach in dem Tal, auf das ich jetzt treffe. Die Okna kommt aus der Ukraine, fließt durch Plot' und mündet weiter unten in den Dnjestr. Über dieses Brückchen und eine westliche Parallelstraße sollte ich den über dem Okna-Tal liegenden Ortsteil Sowjetskoje erreichen, doch entweder lenken mich die drei Dorfschönen ab, die mir im Supermini und schwarz gemusterten Strümpfen entgegenstöckeln, oder aus irgendsonst einem Grund habe ich es vorgezogen, nach Plot' hineinzufahren. Weiter oben im Dorf gibt es noch eine Zweigstraße halblinks – ab jetzt ohne jeglichen Asphalt –, die bergan hinter, das ist nördlich Sowjetskoje führt."
Da ist er: der stolze Hügel 273,9!
Eine Spur führt hoch ...
"Ein Hügelchen, allerliebst wie ein Grabhügel, hübsch aufgesetzt auf einer Grundfläche von vielleicht 30 mal 30 Meter, den Acker fünf Meter überragend, genau wie auf der Sowjetkarte eingezeichnet und mit blühenden Bäumchen bestanden. Eine Erdspur führt die etwa 100 Meter hin und eine ausgetretene Trasse sogar die fünf Meter hoch durchs Gras. Obenauf finde ich einen kreisrunden Wall, mit Durchmesser etwa zehn Meter, und darinnen einen stumpfen Erdkegel, wie als hätte man hier ein Denkmal setzen wollen. An der höchsten Stelle des Kegels die kümmerlichen Reste irgendeines Betonpfeilers. Schade, was auch immer hier stand, es ist verschwunden und zerstört. Ein Vermessungszeichen?"
Mit den Toten redet und ißt man: Bänke und Tische stehen bereit.
"Zurück in Rybniza. Ein Pope wandelt vor mir zu den Abfertigungsbaracken. Am Posten mit dem Schild – na ja, Sie wissen schon: Kontrolle der Passierscheine Rybniza, Durchfahrt ohne Paß verboten – gebe ich mein Zettelchen ab. Der freundliche Russe bietet mir einen Stuhl in seiner modernen Baracke an; das ist ungewöhnlich für Behandlungen an Grenzen im Osten. Fragt: 'Did you see Plot' now?' Yes, I did. Ein sechzehnjährig aussehendes Bübchen mit riesengroßer Tellermütze auf dem Milchgesicht öffnet und schließt die Schranke. Da ich 'nur' ausreise aus Transnistrien, andererseits auf kern-moldawischer Seite 'nur aus einem abtrünnigen Landesteil' einreise, begnügt man sich mit einem Blick in das Hinterteil meines Subaru, stellt fest, daß man dasselbe doch schon mal ein paar Stunden zuvor gesehen und begutachtet hat. An den moldawischen Baracken genügt Gesichtskontrolle und Vergleich mit meinem Paßbild und meine Bemerkung 'sewodnja utra in' – heute morgen rein – und 'sejtschass out' – jetzt raus – überwindet alle Hürden. Man wünscht mir 'drum bun' – gute Reise – keine weiteren Laufzettelchen. Wohin jetzt? Nach ChiÈ™inău, wohin auch sonst. Kischinau klingt immer plausibel, und mir fällt sowieso nichts anderes ein. Ich muß erst auf meiner Straßenkarte gucken, wohin ich eigentlich will."
Transnistria, a republic in limbo at the edge of Europe: ps://www.youtube.com/watch?v=S5euiCXI8RA