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Meine Streifzüge sind wie Blütenblätter um einen zentralen Blütenstand angeordnet.

 

Buch L      Den Stiefel hinunter!

Den Stiefel hinunter!


Ganz richtig: Eine Blüte braucht, um vollständig zu sein, auch einen Stengel. Nichts bietet sich besser an, als den Stengel auf die Halbinsel zu legen, die aus der Mitte Europas heraus wie ein Stiefel nach Süden ragt und unten Sizilien wie einen Fußball kickt. Also mache ich es frei nach Johann Gottfried Seume, der 1801 zu seinem „Spaziergang nach Syrakus“ aufbrach; der erste Satz seines berühmten Buches lautet: „Ich schnallte in Grimma meinen Tornister, und wir gingen.“


Jetzt schnallen wir also auch, gehen wir in meiner Anthologie weiter, Schritt für Schritt, Blütenblatt um Blütenblatt, von einem Höhepunkt zum nächsten, durch Italien nach Süden.


Die Problematik der Außengrenzen Italiens werden wir kennenlernen; dazu auch eine Auswahl an internen Autonomiebestrebungen einzelner Volksteile. Aber nicht nur das. Es gibt auch unterschwellig schwärend regelrechte Separatistenbewegungen, die gegen die korrupte und ineffiziente Zentralregierung in Rom protestieren. Padanien zum Beispiel, des Umberto Bossi phantasiereich, mit einer 1995 organisierten provisorischen Regierung der „Lega Nord“ – im Juni 1996 als „Repubblica Federale di Padania“ auf dem Papier gegründet. Im September desselben Jahres stellte Padaniens „Sonnenschein“-Regierung der „Schattenregierung“ in Rom ein Ultimatum zur Verhandlung eines „Trennungsvertrags“, bevor Padanien einseitig die Unabhängigkeit erklären würde.


Inspiriert von Padanien konstituierte sich im Mezzogiorno eine Lega Sud und rief zur Abspaltung einer Bundesrepublik Ausonien auf. Beide, Padanien und Ausonien, haben in der Zwischenzeit mächtig an Schwung eingebüßt, seit ihre Exponenten in Premierminister Berlusconis Koalitionsregierung eingebunden wurden; wie alles in Italien war alles nicht ganz ernst gemeint.


Mein Bericht droht auszuufern, denn Italien ist voll von ethnischen Minderheiten. Ein paar davon werde ich als Bergsteiger besuchen, dann, wenn sie so groß und bedeutend sind, daß man ihnen eine Art politische Selbstverwaltung zugestanden hat. Bei wenigen von ihnen habe ich die höchsten Berge ihres Territoriums bestiegen, dann, wenn ihre Territorien und ihre Rechte sauber definiert waren. Nur dreißig von insgesamt siebenundfünfzig Millionen Italienern sind „richtige“ Italiener, die anderen alle Angehörige irgendwelcher Minderheiten. Möglicherweise fast die Hälfte aller Italiener benützt nicht die Hochsprache als ihre Muttersprache. 89 Prozent weisen in ihrem Sprechverhalten lexikalische Ähnlichkeiten mit Französisch auf, 87 mit Katalanisch, 85 mit Sardinisch, 82 mit Spanisch, 78 mit Räto-Romanisch, 77 mit Rumänisch. Wenn ich wollte, könnte ich noch monatelang den Stiefel Italiens hinauf- und hinunterziehen und würde dabei mehr und mehr entdecken:


Da wären erst mal Dialekte wie Toskanisch, Abbruzzisch, Pegliese, Umbrisch, Laziale, Marchigiano, Cicolano-Raetino-Aquilano, Molisano. Die nördlicheren fließend übergehend in das Okzitanisch Frankreichs, die südlichen zum Teil grob verschieden vom Hoch-Italienisch. Sprachwissenschaftler sprechen aber bei den genannten immer noch „nur“ von Dialekten.


Dann sind da aber auch ein paar Zehntausend Engländer, Malteser, Chinesen, Somali, Eriträer, Philippinos – sie meine ich nicht; sie sind zwar „echte“ Minderheiten, sind aber nicht standortgebunden und haben keine speziellen politischen Rechte. Die interessieren also in meinem Zusammenhang nicht. Dazu zählen aber auch die 5000 Balkan-Roma, lokalisierbar in Arlija / Erli, die 1000 bis 3000 Kalderash-Roma, die 1000 Lovari-Roma, die 10000 Sinti vom Stamm der Manouche und vielleicht 4000 Italo-Juden, die gelegentlich auf Elemente ihrer eigenen Sprache, des Italikan, zurückgreifen.


Aber es gibt da auch noch eine ganze Menge, die sich bestimmten Regionen zuordnen lassen und die mit dem Italienischen verwandte Sprachen sprechen, von denen manche behaupten, sie seien aufgrund ihres Aufbaus eigenständige Sprachen: Da wäre zunächst das Venetisch, das mir bei meinen Streifzügen schon ein paar Mal begegnet ist, gesprochen von über zwei Millionen; das Lombardisch, das sowohl in den Schweizer Tessin hineinreicht als auch an bestimmten Stellen Siziliens gesprochen wird, insgesamt von gut achteinhalb Millionen; wenn ich mich den Stiefel hinunter vorarbeite, käme ich als nächstes zum Emiliano-Romagnolo, der Sprache San Marinos und des nördlichen Gebiets des ehemaligen Kirchenstaats, seinerseits in mehrere Dialekte zerfallend; weiter im Westen hätten wir das Ligurische, das von den Städten Carloforte und Calasetta auf Sardinien über Monaco bis nach Genua reicht: 1,8 Millionen.


Wenn wir schon an der französischen Grenze sind, dann wären hier das Piemontesisch zu erwähnen; drei Millionen sprechen es um Turin herum; Provençalisch schwappt von Frankreich her zu 100000 Italienern hinüber, abgesehen von den 70000 Bewohnern des Aostatals. Eine kleine isolierte Gemeinschaft von provençalischen Sprechern sind zudem die 700 „Faetar“ von Faeto und Celle San Vito in der Provinz Foggia in Apulien.


Dann weiter den Stiefel hinunter: Ich begegne sieben Millionen Neapolitanern und Kalabresen, deren Sprache nicht viel mit Hochitalienisch gemeinsam hat. Sardinien mit seinen drei Sardinisch-Dialekten widme ich ein extra Kapitel. Und zuletzt das Sizilianisch mit einer Reihe Unterdialekten: nocheinmal 4,6 Millionen Sprecher.


Doch nicht genug: Es gibt dann noch spezifische Einsprengsel merkwürdiger Art, die auf Einwanderungen in der Vergangenheit zurückgehen: Abkömmlinge von Kaufleuten des 15. Jahrhunderts sind die Albaner Italiens, die Arbëreshë, eine Gruppe von geschätzten 260000, davon 80 – 100000 aktive Sprecher; man findet sie auf Sizilien, in Kalabrien, in den Bergen und Tiefebenen Apuliens und der Basilicata. Über 20000 Katalanen, Valencianer und Balearen leben in Alghero an der Nordwestküste Sardiniens, sprechen folglich „Algharese“. Korsen leben auf der Maddalena-Insel an der Nordostküste Sardiniens; die fallen natürlich nicht so recht ins Gewicht, aber immerhin. Griechen konzentrieren sich besonders auf den Aspromonte östlich von Reggio di Calabria, dort auf die Dörfer Bova, Condofuri, Palizzi, Roccoforte und Roghudi; und die Gegend von Salento mit den Dörfern Colimera, Sternatía und Zollino; das sind 20000. Weit weniger, nämlich 3500, stellen die Minderheit der Kroaten südlich von Molise dar, wo sie in den Dörfern Montemitro, San Felice del Molise und Acquaviva-Collecroce wohnen: Nachfahren von Flüchtlingen aus dem 5. und 6. Jahrhundert.


Und schließlich sind die Minderheiten zu erwähnen, die aufgrund merkwürdiger Grenzziehungen mehr zufällig Italiener sind: Bei Triest treffen wir sie; im Friaul erstrecken sich ihre Wohngebiete entlang der slowenischen Grenze: die 100000 Slowenen. Und genaugenommen sind wir da wieder zurück in Südtirol: Daß die Südtiroler Italiener sind, möchte auch nicht richtig überzeugen, aber das Thema haben wir gerade hinter uns.


Dreiunddreißig lebendige Sprachen werden in Italien gesprochen; kein Wunder daß der italienische Staat etwas enggeknöpft an das Thema herangeht: Wer unbedingt will, kann ja seine spezielle Kultur pflegen, möchte aber nicht auf staatliche Hilfe hoffen. Es könnte das Ende des staatlichen Zusammenhalts sein. Und dann müßte ich auf noch viel mehr Berge steigen – dann lieber doch nicht!


Italien ist also bunt, um nicht zu sagen kunterbunt. Die meisten dieser Partikel kann ich auf meinem Streifzug nur, ganz wie das Wort sagt, kurz streifen, ehrend erwähnen sozusagen, aber da sie keine politische Eigenständigkeit erreicht haben oder besser gesagt: gewährt bekamen, ist es für mich nicht nötig, einen höchsten Berg auf ihren Gebieten zu besuchen. Den wenigen aber, die mein Kriterium der "Unabhängigkeit" erfüllen, widme ich Kapitel in diesem Buch. Also weiter voran, den Stiefel hinunter!


 

 

 

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