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Zerrieben von der Geschichte: Das Memelland – Kapelkalnio Kalnas im Willkischker Höhenzug am Johannistag
Deutsch-litauisches, dann deutsch-sowjetisches, dann sowjetisch-litauisches Verschiebegebiet
Auf dem Rückweg vom Kapellenberg
Auszüge:
"Was überfiel mich hier am Rombinus? Das taghelle Bewußtsein meiner Endlichkeit. Es verstört mich wie nichts anderes, weil ich, oft ohne es zu wissen, auf eine solche Ganzheit hin lebe – in meinen Hobbies ganz besonders – und weil jeder Augenblick, der mir als lebendiger gelingt, seine Lebendigkeit daraus bezieht, daß er ein Stück im Puzzle jener unerkannten Ganzheit darstellt. Wenn die Gewißheit über mir hereinbricht, daß ich diese Ganzheit nie erreicht habe, auch nicht auf anderen Gebieten, daß sie nie mehr zu erreichen sein wird, diese Ganzheit, so weiß ich plötzlich nicht mehr, wie ich die Zeit, die ich nun nicht mehr daraufhin durchleben kann, sinnvoll leben soll. Das ist der Grund für eine sonderbare, erschütternde Erfahrung, daß ich mit meiner Zeit, wiewohl sie knapp geworden ist, nichts Rechtes mehr anzufangen weiß, nichts Besseres als sinnlos einen nach dem anderen Berge abzuhaken. [...]
Das Unglück besteht nicht darin, daß mein Leben jetzt, wo ich das schreibe, noch nicht diese innere Abgeschlossenheit besitzt. Es geht nicht darum, jetzt noch nicht alle Erfahrungen gemacht zu haben, die zu meinem Leben gehören müßten, damit es ein ganzes wäre. Wenn das Bewußtsein von der jetzigen Unabgeschlossenheit des eigenen Lebens für sich genommen schon ein Unglück wäre, müßte jeder notwendigerweise in seinem Leben stets unglücklich sein. Das Bewußtsein der Offenheit ist umgekehrt eine Bedingung dafür, daß es sich um ein lebendiges und nicht schon totes Leben handelt. Es muß also etwas anderes sein, was das Unglück ausmacht: Es ist das Wissen, daß es auch in Zukunft nicht mehr möglich ist, es abzurunden, zu vervollkommnen.
Solange mein Programm also unabgeschlossen ist, bewege ich mich auf eine zukünftige Ganzheit zu, ist die fehlende Ganzheit kein Übel, sondern Anreiz und Zeichen der Lebendigkeit. Die Ganzheit, bei der ich jemals ankommen will, ist gar nicht wünschenswert. Wenn man die fehlende Ganzheit des Lebens als Übel erkennt, dann hat man es sozusagen von seinem Ende her betrachtet – genau so, wie man es eben tut, wenn man an den Tod denkt.
Ich fürchte mich davor, daß mein Berg-Programm je beendet sein wird. Dann wäre der Tod nah."
Johannisfest auf dem Rambynas Kalnas
"Noch einmal 300 Meter nach der Gabelung, und schon wieder biegt dieses noch einfach gehbare Wegstück links zu einem Einzelhaus ab. Wenn ich jetzt noch weiter geradeaus vordringen will – und ich will es – dann versinke ich in hohem Gras, muß waten. Ich kämpfe mich voran, bis ich linkerhand eine Reihe alter Alleebäume habe, die mich weiter geradeaus geleiten, die mir das Gefühl wenigstens geben, hier nicht ganz verloren zu sein. Nach 600 Meter Gewühle durch Kraut treten die Alleebäume in den Hochwald ein, und sofort bessert sich der Weg, weil hier das Kraut nicht mehr so viel Licht zum Wachsen abbekommt. Nochmal 200 Meter weiter finde ich am rechten Wegrand einen Betonquader mit einer unleserlichen Eingravierung – dies nur zur Orientierung, falls jemand auf die Idee kommen sollte, meinen Fußspuren zu folgen ...
Wieder 200 Meter weiter ist ein Baum quer über den schlingpflanzen-überwucherten Weg gefallen und muß seitlich im Wald umgangen werden. Und noch einmal 300 Meter weiter steht da wieder ein Betonquader am rechten Wegrand, allseits mit einem verblichenen roten Punkt versehen, vor einem Tümpel, über dem Schwärme von Mücken in der Sonne tanzen.
Wieder 100 Meter weitergekämpft – jetzt habe ich, seit ich mein Auto zurückgelassen habe, schon 1200 Meter abgezählt – ich hoffe, daß meine Schrittlänge einigermaßen einem Meter entspricht; das ist schwer zu sagen bei all den Verrenkungen, zu denen ich gezwungen bin, wenn ich Pfützen vermeiden, Kraut übersteigen, Baumstämme umgehen muß.
Ab Meter 1400 steigt der 'Weg' plötzlich steiler an, nicht steil im eigentlichen Wortsinn, aber eben deutlich geneigter als vorher. Die Brennesseln auf dem Weg verschwinden, die alte Allee kommt wieder zum Vorschein. Ein ehemaliger Prozessionsweg? Die letzten Meter zum Gipfel sind wie bei einem Highway aufgeschüttet; ich schreite zwischen alten Ahornen und Ulmen dramaturgisch einem absoluten Höhepunkt entgegen."
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