Aufgelöst: der Komi-Permjackij Avtonomnyj Okrug. Weiter bestehend: die Komi-Republik – Nordwestschulter der Gora Narodnaja
Autonome Republik im Verband der Russischen Föderation, bewohnt vom finno-ugrischen Volk der Komi
Die 68 Jahre alte sowjetische Militärkarte ist wegen ihrer topographischen Details unersetzlich.
Bis auf weiteres gibt es hier nur einen extern publizierten Artikel / Until further notice there is only one externally published article:
http://www.hikr.org/tour/post27473.html in German;
http://www.summitpost.org/view_object.php?object_id=657847&confirm_post=7 in English
Das Komi-syrjanische-Lied "Zil'-Z'ol' -- http://www.youtube.com/watch?v=nveXhaz7Og4&feature=related
Die Basis der Narodnaya ist nur mit Bahn an der Workuta-Strecke und geländegängigem Lastwagen zu erreichen.
Auszüge:
"Im Platskartnyj Wagon Nummer 12 des Zugs 371tsch der Russischen Eisenbahnen, Rassijskij Zheleznye dorogy, abgekürzt RZhD – läßt es sich prima leben. Zum Glück steht das Fenster während der Fahrt einen Spalt weit offen, so daß ich nicht den Hitzetod sterbe. Ich schaue um mich: Zweimal drei Liegen übereinander, getrennt von einem Quergang, machen ein Abteil aus; jenseits des Längskorridors im Waggon noch zwei Einzelsitze, macht zusammen Platz für acht Personen. Diese Einheit wiederholt sich neunfach, so daß in einen Waggon 72 Personen passen. Offiziell zählen die Einzelsitze nicht; das heißt, wenn die Nacht naht, darf der Waggon nicht mehr als die offizielle Maximalbesetzung von 54 Personen aufweisen. Mit mir zusammen reisen vier Damen, die alle nur russisch sprechen. Draußen fliegen dieselben Birkenwälder vorbei, die ich schon von der Herfahrt kenne. Wir halten an jedem kleineren Ort; einer heißt sinnigerweise Tundra. Ausweichen folgen, an denen wir entgegenkommende Güterzüge passieren lassen müssen.
Ab und zu durchsteigen zwei in Schlägeruniform gewandete Brutalo-Typen den Gang, mit einschüchterndem Blick und Handschellen am Gürtel. Sind das Terrorismus-Spezialisten oder wollen sie einfach nur die Prinzipien des russischen Ordnungsverständnisses aufrecht erhalten?
Der Tag verstreicht, die Nacht kommt, aber richtig dunkel wird es nicht. Ich lege mich schlafen. Draußen rangieren knirschend holzbeladene Güterwagen. Mitten in der Nacht wache ich in meinem Abteil auf und spüre das Rollen, lausche dem Klopfen der Räder, dem Kreischen der Spurkränze in den Kurven. Ich stehe auf, gehe auf die Toilette, schaue durchs Loch auf die vorbeisausende Schiene, halte den Kopf in den Fahrtwind und genieße die Geschwindigkeit, mit der der immer gleiche, dunkle russische Wald an mir vorbeizieht."
Im Vorbeifahren ... die Wytschegda ...
... stundenlang durch die Taiga ...
"Das endlose, monotone Rattern der Räder wird ab jetzt nur alle paar Stunden an den weit auseinander liegenden Bahnhöfen unterbrochen. Auf den Bahnsteigen bieten russische Mütterchen Eis, Wasser, Gebäck, Obst und Gemüse an. Dazu gibt es Tee aus dem Zugsamowar. Die Schaffnerin hat die frische Bettwäsche schon ausgeteilt. Irgendwann hinter dem hübschen neo-klassizistischen Bahnhof von Uchta klappe ich die Betten herunter, beende den Plausch mit meinem Mitreisenden, strecke mich auf meine Liege und schlafe ein …, um in einen trüben Freitag, den 13. August, hinein aufzuwachen, als wir an Kos'ju vorbeifahren und die stramme Bahnhofsvorsteherin die Kelle hochhebt zum Zeichen, daß sie auf Posten ist. Draußen streicht immer noch Wald vorbei, Wald und noch mehr Wald. Undurchdringliches Dickicht.
Was für eine Fahrt! Noch in Moskau stand der Thermometer auf knapp 40 Grad Celsius; es war unerträglich heiß, die Luft stand im Zug, trotz spärlichster Bekleidung lief bei allen Insassen der Schweiß in Strömen. Und jetzt die Kühle der Arktis!"
... dann 170 km im Lastwagen in den Ural hinein ...
"Pünktlich um zehn Minuten vor 6 Uhr holt mich der Fahrer des 'Ural-vahta' ab. Vor dem Hotel staune ich: Es handelt sich um ein zum Bus erweitertes Lastwagen-Chassis. Wir fahren röhrend die zehn Kilometer aus der Stadt hinaus zum Bahnhof, wo um 6 Uhr 25 die Gruppe, die das Vehikel gebucht hat, mit demselben Zug wie ich gestern aus Richtung Moskau ankommt. Vitalij ist dabei, war in Frankfurt an der Oder bei der Armee, Alexander, ein Professor für Geochemie, und Mischa. Die Kameraden haben schweres Gepäck dabei; alles wird verstaut, und dann schwingt sich der Fahrer wieder hinters Steuer, nicht ohne uns vorher zu zeigen, an welchem Schnürchen in unserer Passagierkabine wir zu ziehen haben, wenn vorne bei ihm im Cockpit die Glocke als Zeichen zum Anhalten läuten soll."
... zur Base Zhelannaya
Düstere Wege
"Nachts um 3 Uhr wache ich auf. Ich registriere ein gluckerndes Geräusch: es regnet. Ich bin unschlüssig, ob ich weiterschlafen soll, doch die Spannung ist zu groß; ich trete vor das Haus, um in die düstere Dämmerung hineinzuschauen. Wenn ich es richtig erkennen kann, ziehen die Regenwolken gerade ab. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken, daher tue ich so, als ob ich aufbrechen wolle und suche mir in der Dunkelheit meines Zimmers mein Frühstück zusammen.
Um 4 Uhr hat es tatsächlich zu regnen aufgehört. Ich marschiere von der Base Zhelannaja in eine ungewisse Zukunft. Der 'Weg' ist als Fahrspur erkennbar, die Rillen voller Wasser. Eine Traktornaja eben. Solange ich Grasbüschel als Trittsteine nehme, komme ich trockenen Fußes weiter, aber das Gehüpfe kostet natürlich etwas Kraft. Erst führt der Weg am Ufer des Großen Balbanty-Sees entlang, dann steht der markante Kegel der Gora Starucha-iz, 1328,2 Meter – vor mir. Ich nehme einen Wegpunkt auf: 680 Meter hoch, 65 Grad 10,526 Minuten Nord 60 Grad 14,070 Minuten Ost."
5 Uhr: Die Sonne geht auf; ich bin schon eine Stunde unterwegs.
"Nun beginnt der eigentliche Anstieg. Weglos geht direkt nach Süden über einen flachen, mit Steinen durchsetzten Grashang auf einen Moränenrücken zu, zwischen Gletscherresten in einem Kar rechts und einem Bach links. Das Kar rechts, umstellt von senkrechten Wänden in einem Halbrund gegen Westen, unter Punkt 1347,5, beherbergt die kümmerlichen Reste des einst viel größeren Balbangletschers; der Bach links ist der Abfluß von Punkt 1133,5."
"Von dem Rücken aus weitet sich der Überblick nach Westen. Unter mir das Seelein von Punkt 1133,5 mit seiner Insel, genau wie auf der Karte zu sehen. Rechts daneben das Kar des verflossenen, zusammengeschmolzenen Balban-Gletschers unter dem Punkt 1347,5. Darüber und in der Ferne der sechsgipflige Manaraga, dessen Höhe kurioserweise sowohl mit 1662 als auch mit 1820 Meter angegeben wird. Glaubhaft ist 1662,7, denn mit dieser Höhe steht der Manaraga in den alten Sowjetkarten.
Auf dem Gipfel des Rückens bietet sich gleichermaßen ein Blick nach Osten: Dort steht die dunkle Gora Karpinskowo, die mich wegen ihrer Höhe auch noch beschäftigen wird. Auf den Sowjetmeßtischblättern ist sie mit 1803,4 Meter verzeichnet. Und vor mir im Süden zum ersten Mal in ihrer ganzen Breite: die Gora Narodnaja!"
Der Gipfelaufbau der Gora Narodnaja steht vor mir.
Der höchste Punkt der Komi-Republik liegt auf der nordwestlichen Schulter.
"Am oberen Ende des Tälchens stehe ich vor einer steilen Schneeflanke, die das obere Gipfelplateau begrenzt. Ich weiche nach links aus und finde so einen leichten Aufstieg an der Stelle, wo die unüberwindbar scheinende Schwelle sanft im Gelände ausläuft. Nun muß ich die Richtung korrigieren, wenn ich auf der rechts vom Hauptgipfel stehenden Nordwestschulter der Narodnaja ankommen will. Das Plateau scheint zwar harmlos zu begehen, aber voller Blocksteine, die das Gehen etwas mühsam und heikel machen – wie schnell könnte ich hier, völlig allein und auf mich gestellt, einen Knöchel brechen!"
Blick nach Westen
Wasserscheide: links Europa, rechts Asien.
"1808 Meter wird genannt, zusammen mit dem Namen 'Zaschtschita' = Abwehr, Schild, Hut. Kein Gipfelzeichen ist zu sehen, kein Vermessungspunkt. Es scheint, die Komi machen sich keine Gedanken um ihren höchsten Punkt.
Gemächlich wandere ich in den Sattel zurück und finde dort ein interessantes Holzkreuz, das, der Ausrichtung seines Querbalkens nach zu schließen, Europa mit Asien zu verbinden scheint. “Spasi – Sochrani" steht auf seinem Querbalken: Rette! Bewahre! Richtig: Ein Blick auf die Karte zeigt, daß der rechte Arm des Balkens in das Tal der Naroda deutet, ganz klar ein Tal des Chanten-Mansen-Bezirks und damit nach Asien entwässernd; die linke Hälfte des Balkens weist ins Tal des Balban'ju und damit nach Europa – oder das, was Menschen für Europa halten."
Felsschrott am Gipfel
Die Gipfelinsignien
Plakette des Such- und Rettungsdienstes des Bezirks Tscheljabinsk: "Den 60 Jahren Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und allen Gefallenen gewidmet"
"Der finale Anstieg über die kontinentale Wasserscheide des Nordwest-Grats zum Hauptgipfel ist ein Kinderspiel, nur wenige Dutzend Höhenmeter, genau dasselbe Block-Gehüpfe wie bisher. Zwei Russen kommen mir entgegen, sprechen aber kein Wort; es sind die einzigen lebenden Wesen, die ich heute zu sehen bekomme. Von dem 'üblichen' Scheingipfel aus sehe ich schon Aluminium in der Sonne blinken; über einen 50 Meter langen Verbindungsgrat erreiche ich um 15 Uhr 45 den Hauptgipfel und treffe eine ganze Menge Gipfelinsignien an: Da ist erst einmal der pyramidale 'Tur', wie die Russen ihre Vermessungszeichen nennen, eine Flagge der Komi-Republik zu seinen Füßen über die Felsen drapiert. Ich muß genau hinschauen: Jawohl, es ist die blau-grün-weiß gestreifte Flagge der Komi-Republik; die Flagge des Autonomen Okrugs der Chanten und Mansen, zu dem der ganze Gipfel offiziell gehört – auch bekannt als Jugra – wäre ähnlich blau-grün gestreift, würde aber im oberen linken Eck das weiße stilisierte Symbol eines Rentiergeweihs tragen. Die Komi erheben also Anspruch auf den höchsten Gipfel des Ural, so auch nachzulesen auf der hier angebrachten Plakette. Eine weitere Plakette feiert den 50. Jahrestag der Ausrufung der Komi-Republik – alles unbehelligt, 600 Meter außerhalb des Territoriums der Republik!"
Auf die Narodnaja! https://www.youtube.com/watch?v=xGJGChL4A2c
Zum Abschluß ein Besuch beim "Parikmacher", dem Frisör, in seiner Parikmacherskaja?
"Vier Tage lang Inta! Ich muß hier ausharren, da meine Bahnfahrkarte so bestellt war, daß ich ein paar Tage Puffer gehabt hatte, zum Aussitzen von Schlechtwetter oder falls sonst irgendwelche Probleme aufgekommen wären. Jetzt genieße ich die problemfreie Regeneration, kann in den Tag hinein leben, ohne mich mehr um mein Fortkommen sorgen zu müssen. Erst schlafen, dann einkaufen, dann einen Brief schreiben und auf der Post am Gorkiplatz aufgeben, wieder schlafen, dann zu Mittag essen im Restaurant, wieder schlafen, fernsehen, meinen Erlebnisbericht auf ein Notizpapier schreiben ... Doch schon am zweiten Tag plagt mich die Langeweile in meinem traurigen Hotelzimmer. Ich muß mich besser intensiver mit der Stadt beschäftigen, in der ich zwangsweise Zeit zubringen muß, und ich muß vielleicht auch versuchen herauszufinden, was eigentlich die Besonderheit der Komi-Republik im politischen Leben ausmacht. Ich gehe also als erstes auf einen fotografischen Streifzug.
Die zweisprachigen Schilder am großen Verwaltungsgebäude am Gorkiplatz interessieren mich. Wie sehr ist die Zweisprachigkeit im Leben der Komi-Republik verankert? Ich muß die Verfassung studieren.
Wie telefoniert man mit russischen Telefonkarten ins Ausland? Es gibt sie an Kiosken zu kaufen; man schiebt sie in ein Taxafon ein, wählt '8', wartet den Ton ab, wahlt '10', wartet wieder den Ton ab, und wählt dann die Länderkennnummer ohne Nullen, also '49' für Deutschland, dann die Vorwahl ohne Null, dann den Anschluß. Man wartet, bis sich der Gesprächspartner meldet. Theoretisch könnte dieser nun endlos an mich hinreden, kostenlos. Wenn der Partner mich aber auch hören möchte, muß ich die Taste 'Ju' rechts unten drücken. Eine Wissenschaft für sich."
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