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Karelien – Nuorunen

Autonome Republik im Verband der Russischen Föderation, bewohnt vom finno-ugrischen Volk der Karelier




Alles Sümpfe und Wald: der Nuorunen oben rechts


"... Wie überhaupt ich mir immer mehr als Getriebener vorkomme, seit ich in Rußland unterwegs bin. Kaum ein Deutscher wagt so etwas, mit dem eigenen Auto durch Rußland! Ich bin ein Exot. Auf der einen Seite verleiht mir das ein Gefühl der Überlegenheit, andererseits gepaart mit Angst, daß jeden Augenblick etwas schief laufen könnte. Denn in meinem Kopf spielt immer noch der Film des Kalten Krieges: Ich fühle mich wie in Feindesland. Tröste mich mit dem Gedanken, daß es nicht einmal schadet, wenn alles schief läuft, solange ich dabei nur überlebe.

Zum ersten Mal ist ein kurzer Blick auf das weite Blau des Onega-Sees möglich, gleich nachdem ich die Grenze zur Republik Karelien überquert habe. Für alle Fälle notiere ich mir die Telefonnummer des Evakuators, gemeint ist: der Abschlepp-Firma, die da an den Bäumen angeschlagen ist: 27-07-07".

 

Auszüge:

"Das erste, was mir nach Überschreiten der Grenze in Karelien auffällt, ist ein zweisprachiges Ortsschild: Schjoltozero auf russisch, Šoutjärv' in einer Sprache, die wie finnisch aussieht. Es handelt sich um den Hauptort der Wepsen. Soweit meine Kenntnisse in beiden Sprachen reichen, ist der Ort nach einem See benannt, ozero = järvi = See. Auf der Dorfstraße werde ich als Deutscher erkannt. Grigorij und Wolodja steigen aus ihrem Auto aus, um mich näher in Augenschein zu nehmen. Grigorij kann so 'gut' deutsch wie ich russisch, er arbeitet in Moskau als Anstreicher und Steinmetz, zeigt mir stolz sein Haus im Dorf, sagt, daß ich mitkommen soll Tee trinken. Tee? Er hat schon voll getankt und kann nur mühsam geradeaus Spur halten. Ich wehre die freundliche Einladung ab, indem ich vorgebe, ich müßte noch heute nach Petrozawodsk. Die Straße dorthin sei 'gut', sagt er.

'Guter Straßenzustand' auf russisch bedeutet in Wirklichkeit durchlöcherter Asphalt; Grigorij und Wolodja hatten nicht gelogen, man muß russische Bewertungen nur relativ verstehen. Mein Herumstromern in fremden Welten, über längere Zeit allein und ohne Möglichkeit, meine Sprache als vernünftiges Kommunikationsmittel einzusetzen, verliert langsam seinen Reiz. Zum Glück ist es in den Breiten, in denen ich jetzt unterwegs bin, tagsüber nicht ganz so heiß, so daß es sich im Auto wenigstens anständig leben läßt; es ist aber auch nicht so kalt, daß ich mich nicht im Freien waschen könnte. Nur die ganze Tagesroutine wird öd, wenn sie sich zu oft wiederholt. Und durch die Fenster meines Autos sehe ich nur Wald, Wald, Wald … Ich fahre durch leeres Land nach Petrozawodsk."


 

 

 Kloster Kizhi im Onega-See

 

Trakt Sandormoch Medvezhjegorsk: Hier wurden in den 1930er Jahren Insassen der Gefangenenlager am Weißmeer-Ostsee-Kanal vom NKWD ermordet und verscharrt.

 

“Grazhdanie! Pri poseschtschenii kladbischtscha pros'ba sobljudat' tschistotu iporjadok. Pri zhelanii mozhno wozlozhit' zwety i zazhetsch' swetschi.' = Bürger! Beim Besuch des Friedhofs achten Sie bitte auf Sauberkeit und Ordnung. Sie können Blumen und Kerzen niederlegen. Grotesk, die Ironie! Von Mord bis Trauer, alles muß ordentlich und sauber sein!"


 

 

Vom 27. Oktober bis 4. November 1937 wurden allein 1111 Insassen der Lager auf den Solovetski-Inseln hier hingerichtet – unter ihnen viele prominente Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Religion und öffentlichem Leben aus allen Regionen der Sowjetunion.

 

"Auf der Überlandstraße M-18 fahre ich weiter nach Norden bis zur 'Bärenstadt' Medvezh'jegorsk, karelisch: Karhumägi, finnisch: Karhumäki. Von hier sind es 30 Kilometer auf einer Nebenstraße nach Südosten am Ufer des Onega-Sees entlang bis Povenets. Hinter dem Ort finde ich die Eingangsschleuse zum Belomorsko-Baltijskij-Kanal – 'BBK', der unter Stalin mit etwa 100000 Menschenopfern erzwungenen, nie wirtschaftlich sinnvollen künstlichen Wasserstraße, die das Weiße Meer – Murmansk – mit der Ostsee verbindet. Es herrscht Fotografierverbot, da es sich bei der Schleuse trotz ihrer Sinnlosigkeit noch immer um ein militärisches Objekt handelt. Ich steige aus dem Auto aus und gehe zu Fuß über die Brücke, scheinbar uninteressiert, aber meinen Fotoapparat unverdächtig im Anschlag. Als ein passables Motiv vor mein Objektiv kommt, reiße ich den Apparat hoch und versuche, den Auslöserknopf zu drücken – da schreit auch schon ein junger Wachsoldat aus seinem Ausguck und bringt mich zur Räson. Schade, eine Sekunde zu spät, keine Aufnahme.

Also die 30 Kilometer wieder zurück zur Hauptstraße. Aber da hätte ich fast im Wald ein Stichsträßchen übersehen, das da 900 Meter lang nach Sandormoch abzweigt: zur Begräbnisstätte von über 7000 vom Geheimdienst NKWD in den Terrorjahren 1937/38 Erschossener. So eng liegen in Rußland Frömmigkeit und Grauen nebeneinander! Im Oval sind Blumen am Boden um eine Senke herum arrangiert. Hier ist wohl die ehemalige, 7,5 Hektar große Sandgrube des 'BBK', in die 1937 die Hierarchie katholischer und orthodoxer Geistlicher, Wissenschaftler und Schriftsteller, tapfere russische Offiziere, fleißige Holzfäller und Bauern, Professoren und Studenten, Fischer, Arbeiter, Ärzte, Lehrer, Priester kurz: 'Volksfeinde', die auf den Solovki-Inseln inhaftiert waren, überführt, in wochenlangen Massakern erschossen – hauptsächlich am 11. März und 12. August 1937 – und in 236 'Beerdigungen' verscharrt wurden."


 

Kloster Solovetski im Weißen Meer



"Kein Hafen ist zu sehen, an dem die Boote für Solovki ablegen würden, kein Hinweisschild. Ich erspähe an einem relativ neu aussehenden Brunnenhäuschen, einer öffentlichen Wasserzapfstelle, einen vertrauenswürdig aussehenden Mann, der hier Wasser in seine Eimer abfüllt. Wasser kann ich auch brauchen, also stelle ich mich mit meinem Kanister dazu und frage ihn, wo der Hafen sei. Ich muß noch einmal zehn Kilometer über den Ort hinaus in mehreren Windungen der Vorfahrt nach fahren, bis nach ein paar Ortschaften die Straße plötzlich in einer Baustelle endet. Ich frage die Bauarbeiter, und es stellt sich heraus, daß sie gerade an Hütten arbeiten – das schöne 'russische' Wort Коттаджес, Cottages, zeigt mir an, daß das Ganze später einem touristischen 'kompleks', einem Komplex angehören soll – in Rußland ist alles, was nicht eine Einheit darstellt, ein Komplex. Schwachsinn, einfach nur ein paar Übernachtungshäuschen und eine 'Administrazija', wo man sich das Schiffsticket kaufen kann. Die Örtlichkeit heißt Rabotscheostrowsk, übersetzt 'das von der Arbeitsinsel'.

Ich parke auf einem leeren Parkplatz. Sofort bin ich von gefährlich aussehenden Typen umringt, die schwarze Jacketts tragen mit Aufschrift 'Sicherheit'. Wieder Schwachsinn, was soll hier unsicher sein!? Gleich werde ich mit Namen und Autonummer in einem Buch registriert. Die Typen fordern Geld, Parkgebühr. Werden massiv, weil ich mich ziere. Ich will doch nur ein Ticket kaufen, nicht hier bleiben. Nach längerem Kopfkratzen lenken sie ein. Um die Ecke herum sei die Administrazija, dort solle ich mich melden.

In der Administrazija residiert Valeria von der Firma Pritschal, zu deutsch: Anlegestelle. Valeria ist fröhlich, aktiv. Natürlich spricht sie Englisch, und das nicht schlecht. Klarer Generationenunterschied: Sie ist zu jung, um sowjetisch zu sein. Fragt mich, was mich hierher führe. Erzähle ihr lang und umständlich von meinem Hobby. 'Ach, was gibt es interessante Leute!', flötet sie verführerisch. In ihrem Ton liegt Sehnsucht. Sie erklärt mir liebenswert, daß das tägliche Boot zur Solowki-Insel morgen um 8 Uhr gehe und um 17 Uhr 30 zurück. Ich zahle zwei Mal 800 Rubel und noch einmal 50 Rubel für eine imaginäre 'Gebühr'. Auch hier wird fein säuberlich meine 'Familija' registriert. Der Name des Schiffs soll 'Wassilij Kosjakow' sein, verrät Valeria noch, damit ich morgen kein Problem bekomme.


 

 

 

Abseits der großen Straße: Achtung! Eine Strecke mit Unfallgefahr droht zwischen km 44 und 56.

 

 

Für Ausflüge im Nationalpark "Paanajärvi" bedarf es eines Erlaubnisscheins.

 

 

Ski- und Wanderroute zum Nuorunen

 

 

Wenn ich schnell drüberweg fahre, bricht die Brücke unter mir vielleicht nicht zusammen ...

 

 

... doch gefährlich steht schon ein Nagelkopf aus der Bohle heraus.

 

 

Links ab beginnt der lange Pfad durch den Wald zur Gora Nuorunen, 13 Kilometer Luftlinie.

"Am Samstag, den 20. Juni, 7 Uhr, ziehe ich meine Gummistiefel an, hänge mir Trillerpfeife und Fotoapparat um den Hals, setze den Rucksack auf und nehme den Pfefferspray schußbereit in die Hand. Nicht lachen! Ich komme mir gleichzeitig lächerlich und voller Angst  vor, wie ich so meine ersten Schritte leise vor mich hintrillernd in den Wald tue, immer hinter jedem Baum einen Bär vermutend. Nicht zu vergessen: das GPS-Gerät; es soll mir sehr hilfreich werden."


"10 Uhr15 ist es, als ich geradeaus vor mir zum ersten Mal mein Ziel, den breiten Rücken des Nuorunen, am Ende einer aufwärts führenden Schneise erblicke. Ich raste eine halbe Stunde, esse etwas, ständig um mich schauend, damit ich nicht unverhofft von einem Bär überfallen werde. Je mehr Zeit verstreicht und je weniger 'passiert', desto nachlässiger werde ich, vergesse sogar zwischendurch für kurze Augenblicke das Trillern. Die Lippen schmerzen schon, die Trillerpfeife voller Spucke dazwischen geklemmt, als ich die steile Schneise ansteige."

 

Gipfel-Weitsicht am Rande der Tundra


"Der Pfad verliert sich in Gipfelnähe. Er ist auch gar nicht mehr nötig, denn das Gelände ist jetzt leicht zu überschauen und keine Nebelwolke trübt den Blick. Ich wähle eine Route zunächst nach halbrechts auf den Gipfelkamm und auf ihm in langgezogener Linkskurve hoch zu den Felsen, die den Gipfel markieren. Um 12 Uhr stehe ich am höchsten Punkt, einer verbogenen Stange, montiert in einer nackten Autofelge neben dem Gipfelfelsen, den ein Elchgeweih ziert. Es handelt sich um den Rest eines Vermessungspunktes. Ich messe 576 Meter Höhe, wie in Wirklichkeit, 66 Grad 8,582 Minuten Nord 30 Grad 14,647 Minuten Ost.

Eine rundherum offene, zugleich weitläufige und merkwürdig melancholische Aussicht eröffnet sich über die unabsehbar endlose, völlig leere Wald- und Hügellandschaft Nordkareliens entlang der Grenze zu Finnland. Der Tavajärvi-See und die Berge Kivakka und Ukotunturi auf der russischen Seite, der Berg Ruka auf der finnischen. Am Osthang des Berges sollen heilige Steine der alten Sami-Stämme, die sogenannten 'Seiđr' oder 'Seita', zu sehen sein, die auf kleineren Blöcken ruhen, Wohnhäuser von Wächtergeistern."

Der Beweis im Granit: ein Vermessungspunkt


Wanderung auf den Nuorunen: https://www.youtube.com/watch?v=zM2pNtUcEAI


 

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