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Ungarns Wächter über die Puszta – Kékes
Ungarns Farben auf einer Stufenpyramide: der Gipfel des Kékes
Auszüge:
„Der Winter war vorbei; es war Anfang April, die Tage wurden hell, die Amseln begannen morgens zu flöten, wenn ich noch im Halbschlaf im Bett lag, unruhig wie immer, Pläne schmiedend. Ohne Computer und Internet kann ich nicht lange Pläne schmieden, ich muß ins Detail gehen, und dazu brauche ich Informationen, Landkarten, muß meine Tagesabläufe einteilen. Raus also aus dem Bett! Raus an die frische Luft! Johann Gottfried Seume: 'Das beständige Leben im Zimmer wird bald zur kränkelnden Vegetation. Wer Kraft und Mut und Licht mehren will, gehe hinaus in die Elemente.' Genau das tat ich.
Setze mich also hinters Steuer und breche zur ersten meiner Balkan-Touren auf, fliehe direkt, so stark zieht es mich weg. An einem sonnigen Palmsonntagmorgen – es ist der 1. April – umrunde ich auf der Umgehungsautobahn durch die Ausläufer des Wiener Waldes die Hauptstadt Österreichs und folge dem „H“ für Ungarn nach Osten. Jetzt wird’s flach, osteuropäisch, ganz un-österreichisch. Die niedrigen Bauernhäuser entlang der Dorfstraßen aufgereiht, die Dorfstraßen von breiten Grasstreifen eingefaßt, Gänse watschelnd, Omas auf den Bänken vor den Häusern, spielende Kinder. In der platten Ebene drehen sich die Räder eines Windparks, der letzte Ausläufer einer technisierten Zivilisation. Ab jetzt wird’s menschlich, ich kann aufatmen. Wie sagte Heinrich Harrer, der österreichische Bergsteiger, Forscher und Lehrer des Dalai Lama, doch so schön: 'Wenn ich die Zivilisation hinter mir lasse, fühle ich mich sicher.'
Nun ist es nicht so, daß ich in ein unzivilisiertes Land komme. Ich habe gerade, kurz nachdem ich von zu Hause aufgebrochen war, vor Sinsheim schon einen platten Reifen zu beklagen gehabt. Solche Überraschungen noch in heimatlichen Gefilden bereiten schlagartig vor auf das, was noch kommen mag: Ich muß selbständig sein, kann nicht mehr auf die Hilfe anderer hoffen. Dies ist die Form von Zivilisation, die mich auf dem Balkan und allgemein in Osteuropa erwartet. Es ist nur ein Wechsel des Betrachtungswinkels, nichts sonst.“
„In Serpentinen geht es weiter durch Buchenwald bis zu zehn Prozent steil. Die Straße endet an einem Parkplatz, der durch die Nachbildung eines großen Weinfasses auffällt, das dort hingestellt wurde, um durstige Wanderer anzulocken. Es sind aber zur späten Abendstunde keine mehr da. Blutrot versinkt im Westen über den Waldhügeln des Mátragebirges die Sonne im Dunst. Ich schließe das Auto ab und wandere wenigstens die letzte Viertelstunde zu Fuß über einen Skihang unter den Kabeln des Skilifts auf den dunklen, baumbestandenen Gipfel vor dem Fernsehturm zu. Dort finde ich, fast versteckt unter den Bäumen, das Gipfeldenkmal, bemalt mit den Farben Ungarns.
Hinter dem Gipfelmonument liegt ein Wasserreservoir, das sofort meine Aufmerksamkeit beansprucht, denn in seiner ganzen Künstlichkeit liegt es noch mindestens einen Meter höher. Ich schnüffle daran herum, komme dann aber zur Besinnung und begnüge mich mit meiner eigenen Vorgabe: Nur Natürliches zählt. Zurück also zum Gipfelmonument und die Plakette an seinem Sockel studiert.“
Der Dreigrenzenpunkt Ungarn – Serbien – Rumänien
„Die Wegspur verliert sich zwischen Mais- und Sonnenblumenfeldern. Also zurück und doch den rechten Winkel auf dem Hauptweg gegangen 'wie es sich gehört'. Bei der nächsten Gelegenheit biege ich wieder links ab – wie Sie begreifen, hat man hier keine Wegweiser mehr aufgestellt, obwohl es gerade hier nötig wäre – und wieder bewege ich mich auf den Wachturm zu, diesmal unaufhaltsam.
Auf der Höhe des Wachturms steht tatsächlich wieder ein Wegweiser, der mich im rechten Winkel nach links direkt auf ihn zuführt. Aha, der Wachturm ist serbisch. Noch eine Kurve nach links vor dem Gerüst, und dann stehe ich vor dem pyramidalen Monument aus drei Sockelstufen mit aufgesetztem Tetraederstumpf. Im Hintergrund lauert ein blau-gelb-rotes Willkommensschild 'Romania', das mich aber eher abschrecken soll, vermute ich. In der Wiese vor dem Wachturm ein ernst zu nehmender Grenzstein Nummer F/169, der Ungarn von Serbien trennt; der ungarischen Seite zugewandt trägt er die Aufschrift 'MNK'. Hoppla, Magyar Köztársaság heißt der Staat offiziell – offenbar stammt der Grenzstein noch aus kommunistischer Zeit, denn das zwischen M und K geschobene N bedeutet 'Volk', also zusammengenommen Ungarische Volksrepublik = Magyar Népköztársaság.
Das Monument selbst ist nach jeder seiner drei Seiten hin mit Wappen verziert: Der doppelköpfige Adler schaut nach Serbien, Krone und Kreuz nach Ungarn, und schließlich noch ein Adler – das muß dann wohl Rumänien sein. Auf jeder Seite prangt auch noch das Datum 4. Juni 1920, an dem man das Monstrum im Zuckerbäckerstil errichtet hat.“
Mátra Mountains - GalyatetÅ‘ - KékestetÅ‘: https://www.youtube.com/watch?v=hVEnLoIC8Pg
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