“Und dann steigt einer der Pfade tatsächlich plötzlich einen oder zwei Meter an, ich trete auf eine Lichtung hinaus, drehe mich nach rechts um und habe ihn! Ein verrostetes Eisengerüst markiert den darunter stehenden Vermessungsstein, dieselbe Plakette darauf, wie ich sie schon von der Juozapiné her kenne, umgeben von einem im Dreieck um das eiserne Dreibein und den Stein gelegten Gräbchen. Ein richtiger Gipfel!”
“Bei Kilometer 2 ist kein Dorf zu sehen, stattdessen biegt die Vorfahrt des Sträßchens rechtwinklig nach rechts, um Šalcininkai zuzustreben, und ein weiteres Schild verspricht, daß es jetzt nur noch 400 Meter nach Sakaliné seien. Dort angelangt erspähe ich weißrussische Grenzpfosten in einiger Entfernung am Waldrand, aber eine Siedlung, die hätte Pagiriai sein können, ist nirgendwo zu sehen, zumal ich nicht genau weiß, wo exakt im Südosten von Šalcininkai das verdammte Pagiriai eigentlich gelegen haben soll.
[...]
Hier stehe ich nun und frage mich, wie ich die Grenze überqueren soll, die ich nicht überqueren darf. Andere vor mir haben das getan, als das in den wenigen post-sowjetischen Jahren, als alles chaotisch war, noch problemlos ging, oder sie sind – schlauer und hartnäckiger bohrend als ich – die ehemalige Exklave von der weißrussischen Seite aus angegangen. Ob ich das jemals noch nachhole? Ich glaube nicht. Verschwunden ist verschwunden – ich muß nicht jedem Partikelchen Land nachstellen, nur weil es irgendwann mal zu Litauen gehörte.”
Selbst auf der alten sowjetischen topographischen Karte ist die Enklave Pagiriai nicht mehr verzeichnet.
“Warum bin ich überhaupt hier? Was hat es auf sich mit dem gottverlorenen Kaff Perloja?
[...]
Als der Ostteil Litauens um Vilnius herum zwischen 1918 und 1923 polnisch besetzt war und den sogenannten 'Staat' Mittellitauen bildete, fühlte sich das Dorf Perloja im 20 Kilometer breiten, entmilitarisierten Niemandsland zum freien Litauen hin eingezwängt und alleingelassen und rief eine 'selbständige' Republik aus. Eigene Gesetze wurden erlassen und eine Verteidigungsstreitmacht von 50 ortsansässigen Bauern aufgestellt – nach anderen Angaben 300. Als offizielles Gründungsdatum gilt der 13. November 1918; offiziell abgeschafft wurde die Republik schon am 2. Mai 1919, lebte aber de facto weiter bis in die Jahre 1922 und 1923 hinein. 'Präsident' war Jonas Cesnulevicius – 1897 –1952. Zehn Nachbardörfer gehörten damals zu der Republik.“
Herzog Vytautas der Große hält inmitten der Republik Perloja Wache.
Unbekannte Republik Perloja: https://www.youtube.com/watch?v=HNYQkKHB_r8
„Zwischen Flaggenmast und dem litauischen Grenzzaun, an dem ich stehe, erspähe ich, verdeckt durch Fichten, ein zweistöckiges Haus. Ein Kamerad, mit dem ich von zu Hause aus in Verbindung stehe, hat diese Stelle im November 2001 besucht. Damals wohnten hier Herr und Frau Mackevicius. Sie waren sofort verängstigt, als sich damals mein Freund ihnen näherte, und fragten, ob er von der 'richtigen' Straße her käme. Zwar war die litauisch-russische Grenze damals noch unmarkiert, jedoch war ihnen klar, daß sie beide und eine Nachbarfamilie mit noch einmal vier Personen, allesamt litauische Staatsbürger, auf russischem Territorium wohnten. Als 1997 die Präsidenten beider Länder, Boris Jelzin und Algirdas Brazauskas, den Grenzvertrag unterzeichneten, war vereinbart worden, daß die beiden Bauernhöfe und 1,5 Hektar umgebendes Land Litauen übergeben werden sollten.“
Am litauisch - russischen Grenzzaun in Vištytis
Dreiländereck Litauen - Polen - Rußland
„Selbst polnischerseits ist es verboten Grenzeinrichtungen zu fotografieren. Gerade bin ich damit fertig, da kommt schon ein polnischer Grenzsoldat – Straz Graniczna = Grenzschutz – auf Streife auf einem kleinen vierradgetriebenen Vehikel den Feldweg her. Ich habe keine Zeit mehr, meine Kamera zu verstecken, doch er sagt nichts. Erklärt mir sogar, in welchem Segment ich Rußland, Litauen und Polen zu suchen habe – ich tue scheinheilig so, als wisse ich das nicht. Er ist es auch, der mir erklärt, die Litauer hätten ihren Stein noch nicht aufgestellt.
Die Litauer haben ihren Stein noch nicht aufgestellt! Mein Gott, was habe ich allein in Litauen Grenzsteine, Grenzpfähle, Hinweisschilder gesehen! Kein Wunder, daß die Litauer nicht nachkommen – vielleicht haben sie was Besseres zu tun.“